Prinzipiell handelt eine Person, welche einen im Strafgesetzbuch beschriebenen Tatbestand erfüllt, rechtswidrig und ist dafür dementsprechend nach den einschlägigen Bestimmungen zu bestrafen.
Zumal das Leben viele Geschichten schreibt, gibt es jedoch Konstellationen, in welchen der Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen das – an und für sich strafbare – Verhalten dennoch billigt. In diesem Zusammenhang spricht man von „Rechtfertigungsgründen“: Obwohl der gesetzlich umschriebene Tatbestand erfüllt ist, wird das Handeln strafrechtlich (und auch zivilrechtlich) nicht sanktioniert. Das prominenteste Beispiel für einen Rechtfertigungsgrund ist die Notwehr nach § 3 StGB.
Vor allem bei Delikten gegen Leib und Leben (Mord § 75 StGB, Totschlag § 76 StGB Körperverletzung § 83 StGB und Raufhandel § 91 StGB) ist regelmäßig die Frage nach der Notwehr bzw. einer allfälligen Notwehrüberschreitung zu prüfen.
§ 3 (1) Nicht rechtswidrig handelt, wer sich nur der Verteidigung bedient, die notwendig ist, um einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff auf Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, Freiheit oder Vermögen von sich oder einem anderen abzuwehren. Die Handlung ist jedoch nicht gerechtfertigt, wenn es offensichtlich ist, dass dem Angegriffenen bloß ein geringer Nachteil droht und die Verteidigung, insbesondere wegen der Schwere der zur Abwehr nötigen Beeinträchtigung des Angreifers, unangemessen ist.
(2) Wer das gerechtfertigte Maß der Verteidigung überschreitet oder sich einer offensichtlich unangemessenen Verteidigung (Abs 1) bedient, ist, wenn dies lediglich aus Bestürzung, Furcht oder Schrecken geschieht, nur strafbar, wenn die Überschreitung auf Fahrlässigkeit beruht und die fahrlässige Handlung mit Strafe bedroht ist.
Nach der Bestimmung des § 3 StGB handelt also nicht rechtswidrig, wer sich
- bei der Abwehr eines gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriffs (Notwehrsituation)auf
- die Rechtsgüter Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit oder Vermögen (notwehrfähiges Rechtsgut)
- der notwendigen Verteidigung (Notwehrhandlung) bedient.
Nur wenn alle drei Voraussetzungen erfüllt sind, ist der Täter nicht zu bestrafen.
Notwehrsituation
Die Notwehr setzt einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriff voraus.
Ein Angriff ist ein menschliches Verhalten, das die Beeinträchtigung von notwehrfähigen Rechtsgütern (wie das Leben, die Gesundheit, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, die Freiheit oder das Vermögen) befürchten lässt. Zumeist ist ein Angriff ein aktives Vorgehen, wobei jedoch auch gegen ein passives Verhalten Notwehr möglich ist.
Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn die Beeinträchtigung des Rechtsgutes, auf das der Angriff abzielt, bereits erfolgt (wenn beispielsweise der Angreifer mit der geballten Faust ausholt und zuschlägt). Unmittelbar drohend ist der Angriff hingegen, wenn etwa ein alkoholisierter Zeltfestbesucher androht seinem Kontrahenten seinen „Standpunkt“ zu erklären und er sich hierfür die Ärmel hochkrempelt.
Solange der Angriff andauert, darf Notwehr geübt werden. Auch die „Nacheile“, also wenn beispielsweise der Dieb den Gewahrsamsbruch vollzogen hat und auf der Flucht vom Opfer verfolgt und gestellt wird, ist als Notwehr zu beurteilen.
Die Notwehr ist nur bei einem rechtswidrigen Angriff möglich. Zumal ein „Angriff“ eines Polizisten in der Regel nicht rechtswidrig ist, kann die Notwehr in derartigen Situationen kaum argumentiert werden.
Notwehrfähiges Rechtsgut
Ausschließlich die Rechtsgüter Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Vermögen dürfen im Rahmen der Notwehr verteidigt werden. Keiner Notwehr zugänglich ist beispielsweise ein Angriff auf die Ehre (§ 111 StGB) oder die öffentliche Ordnung (dies ist die Aufgabe der Polizei). Zumal Tiere „Sachen“ und damit Vermögensgegenstände sind, kann auch bei einem Angriff auf die eigene Katze oder den Hund Notwehr geübt werden.
Notwehrhandlung
Die Notwehr rechtfertigt nur jene Verteidigung, die notwendig ist, um den Angriff abzuwehren. Es ist immer jenes Mittel zur Abwehr zu wählen, welches gerade noch zielführend den Angriff abwehren könnte, wobei es sich um das schonendste Mittel handeln soll (RZ 1989/57). Der Angegriffene darf jedoch immer jenes Mittel wählen, welches im Nachhinein betrachtet den Angriff verlässlich, sofort und endgültig abwehrt (SSt 57/78).
Die Frage, welches Verteidigungsmittel „notwendig“ ist, muss stets im Einzelfall geprüft werden. Hierbei sind unter anderem die Art und Intensität des Angriffs, die Gefährlichkeit und die körperliche Konstitution des Angreifers sowie die zur Abwehr zur Verfügung stehenden Mittel zu prüfen.
Eine Güterabwägung ist bei der Notwehr jedoch grundsätzlich nicht erforderlich. So kann etwa auch zur Rettung von Vermögenswerten in das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit des Angreifers eingegriffen werden (SSt 57/63). Wenn dem Angegriffenen jedoch nur ein geringer Nachteil droht und die notwendige Verteidigung zu einer unangemessenen schweren Verletzung des Rechtsgutes des Angreifers führen würde, ist die Notwehr jedoch ausgeschlossen (sogenannte Unfugabwehr).
Achtung: Eine Notwehrhandlung ist nur im Rahmen der soeben beschriebenen Grenzen möglich. Jede darüberhinausgehende Verletzung eines Rechtsgutes ist strafbar.
Ausnahme hiervon ist lediglich, wenn das Tatopfer die Grenzen gerechter Notwehr bloß auch Bestürzung, Furcht oder Schrecken überschritten hat. In diesem Fall kann die erfolgte Verletzung des Angreifers nur bestraft werden, wenn die Überschreitung auf Fahrlässigkeit beruhte und auch die Fahrlässigkeit mit Strafe bedroht ist.
In der Praxis scheitert die Notwehr oft an der zeitlichen Komponente, zumal der Angreifer zum Zeitpunkt der Notwehrhandlung des Opfers den Angriff bereits beendet oder abgeschlossen hat. Die „Notwehrhandlung“ ist hier als neuerlicher rechtswidriger Angriff des vormaligen Opfers zu werten, sohin die Strafbarkeit im Ergebnis zu bejahen ist.
Zivilrechtlich schließt die Notwehr auch eine Schadenersatzverpflichtung aus. Liegt also Notwehr vor, kann sich der Geschädigte am Schädiger auch nicht schadlos halten (RIS Justiz RS0009048).
Mag. Robert Rieger, Strafverteidiger und Rechtsanwalt in Wels
weiterführende Links:
https://epub.jku.at/obvulihs/content/titleinfo/3676325
https://eplus.uni-salzburg.at/obvusbhs/content/titleinfo/7611442