Der Begriff der Gewalt spielt im Strafrecht eine zentrale Rolle:
So begeht etwa derjenige, der einen anderen ohne dessen Einwilligung mit Gewalt entführt oder sich einer sonst bemächtigt, um einen Dritten zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, eine erpresserische Entführung iSd § 102 StGB und ist wer einen anderen mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt nach § 105 StGB (Nötigung) zu bestrafen.
Wer eine Person mit Gewalt zur Eheschließung oder zur Begründung einer eingetragenen Partnerschaft nötigt, verwirklicht das Delikt der Zwangsheirat (§ 106a StGB); übt er gegen eine andere Person eine längere Zeit hindurch Gewalt aus ist der Tatbestand des § 107b StGB (fortgesetzte Gewaltausübung) verwirklicht.
Auch die Delikte Hausfriedensbruch (§ 109 StGB), räuberischer Diebstahl (§ 131 StGB), Raub (§ 142 StGB), Erpressung (§ 144 StGB), Vergewaltigung (§ 201 StGB), Geschlechtliche Nötigung (§ 202 StGB) und ebenfalls exotische Delikte wie Luftpiraterie (§ 185 StGB), Störung der Religionsausübung (§ 189 StGB), Gewaltanwendung eines Wilderers (§ 140 StGB) und Hochverrat (§ 242 StGB) erfordern das objektive Tatbestandsmerkmal der Gewalt.
„Gewalt“ ist eine erhebliche Einwirkung auf den Körper eines anderen, dh der Täter muss selbst oder mithilfe eines Werkzeugs tatsächlich am Opfer „Hand anlegen“. Die herrschende Ansicht versteht unter Gewalt den „Einsatz nicht ganz unerheblicher physischer Kraft“, die auch durch ein Werkzeug oder andere technische Hilfsmittel entfaltet werden kann (vgl ua RS0095260).
Die Einwirkung auf den Körper muss aber so erheblich sein, dass sie dem Opfer Schmerzen bereitet, es zu Boden wirft oder ihm sonst Widerstand unmöglich macht (vgl ua Schwaighofer WK2, § 105 Rz 35f).
Einfacher ist es hier das Pferd von hinten aufzuzäumen:
So ist etwa derjenige, der bei einem Diebstahl auf frischer Tat betreten, Gewalt gegen eine Person anwendet, um sich oder einem Dritten die weggenommene Sache zu erhalten, ein räuberischer Dieb (§ 131 StGB).
Wer sich jedoch von einer anderen Person, die ihn nur mit geringer Intensität festhält, losreißt (14 Os 118/94), wer einen anderen mit der flachen Hand gegen die Brust stößt, sodass dieser „etwas zurücktaumelt und vorübergehend aus dem Gleichgewicht gerät“ (14 Os 81/95), wer einen anderen mit dem Arm zur Seite schiebt, dass er einige Schritte zurücktreten muss, um nicht zu stürzen (11 Os 52/94) oder wer jemanden stößt, dass er „fast“ hinfällt (13 Os 129/00), wendet keine Gewalt iSd § 131 StGB an und begeht folgerichtig daher auch keinen räuberischen Diebstahl.
Auch das, wenn auch nicht unerhebliche, Anrempeln des Opfers oder das bloß leichte Weg- oder Beiseite-Stoßen ist keine Gewalt. Keine Gewaltanwendung iSd § 131 StGB liegt auch vor, wenn das Opfer nur ganz leicht mit dem Körper gestreift wird oder sich der Täter nur durch seine Körperkraft losreißt (12 Os 93/85). Kommt es dabei allerdings zu einer Rangelei, weil das Opfer den Täter festhält und der Täter daher weitere Körperkraft einsetzen muss, liegt hingegen wiederum Gewalt iSd § 131 StGB vor.
Meines Erachtens wird der Begriff der Gewalt insbesondere von der anklagenden Staatsanwaltschaft oft extensiv und überschießend ausgelegt. Sofern die Beweisergebnisse lediglich ein „Schubsen“ oder ein – wenn auch nicht unerhebliches – Stoßen hervorbringen, liegt gerade keine „Gewalt“ im Sinne des Gesetzgebers vor und wird das in Frage kommende Delikt vom vermeintlichen Täter nicht verwirklicht.
„Gewalt“ ist eben nicht immer Gewalt.
Mag. Robert Rieger, Strafverteidiger in Wels